Sinfoniekonzert: Zeitgenössische Musik: „Misa Criolla“ von Ariel Ramírez und John Rutters „Requiem“

GIESSEN - (ilg). Zwei völlig unterschiedliche Beispiele sakraler Musik der Gegenwart standen beim zehnten und letzten Sinfoniekonzert der Spielzeit auf dem Programm. Im voll besetzten Großen Haus konnten sich auch die Fußballfreunde vor dem Halbfinalspiel der deutschen Mannschaft noch einmal besinnen und südamerikanisches Temperament tanken.

Wohltuende Harmonie

Zeitgenössischer Musik eilt oft der Ruf voraus, mit schrägen und atonalen Kompositionen das harmoniebedürftige Publikum des 21. Jahrhunderts provozieren zu wollen. Weder John Rutters „Requiem“, 1985 uraufgeführt, noch Ariel Ramierez‘ Kreolische Messe („Misa Criolla“), 1964 entstanden, tun nichts dergleichen. Im Gegenteil. Beide Werke für Chor, Solisten und Orchester bewegen mit wohltuenden harmonischen Strukturen und streicheln das von den aggressiven Fußball-Begleiterscheinungen arg strapazierte Gehör des Publikums. Entspannung und Wellness für die Seele in Zeiten von Tor-Jubel und stundenlangen Autokorsos. Gleich zu Beginn ging das Konzert in eine kurze Verlängerung, als eine Saite der Harfe riss und schnell gewechselt werden musste. Hochspannung für die Harfenistin und alle Beteiligten, die die Situation jedoch überaus professionell meisterten.

John Rutter (geboren 1945) baut mit seinen kompositorischen Spannungsbögen eine musikalische Kathedrale, in der der Wechsel zwischen der „toten“ lateinischen und der „lebendigen“ englischen Sprache allein schon als Trost empfunden werden kann. Leben und Tod gehen ineinander über und in der musikalischen Aussage dieses Requiems steht die Hoffnung immer über der Verzweiflung.

In die düsteren Paukenschläge verwoben sich am Anfang die Hoffnung ausstrahlenden Stimmen, die in der Finsternis des Todes zugleich das ewige Licht, „Lux Perpetua“, finden. Im Psalm 130 „Aus der Tiefe rufe ich“ steigerte sich die vom Cello getragene, leidenschaftlich vorgetragene Klage in ein bewegendes Flehen des Chores um Vergebung.

Sopranistin Nora Intxausti bat in dem kurzen Solo „Pie Jesu – Milder Jesus“ um die ewige Ruhe der Toten, und während das „Sanctus“ als stimmgewaltige Hymne die Zuhörer mit ihrer Wucht fast in die Sessel drückte, verstörte das „Agnus Dei“ eher mit dem an- und abschwellenden Grundrhythmus der Pauke. Als Trost schlechthin gilt der Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“. Die wunderschöne Komposition, in der Oboe und Harfe die Stimmen des Chores ergänzten und fortführten, verführte zum Augenschließen und Atemholen. Zum Abschluss ließen Chor, Solistin und Orchester das ewige Licht im „Lux Aeterna“ gemeinsam erstrahlen und ausklingen. Eine lange bewegte Stille nach dem letzten Ton würdigte die große Leistung aller Beteiligten stärker, als es frenetischer Applaus je könnte.

Peruanisches Ensemble

Zu Beginn des zweiten Teils war das bekannte peruanische Ensemble „Grupo Alturas“ zu erleben. Fünf in rote Ponchos gekleidete Musiker stimmten das Publikum mit schönem Gesang, Gitarren, Schlag- und Blasinstrumenten auf Südamerika ein. Auch in die „Misa Criolla“ des Argentiniers Ariel Ramierez (1921 – 2010) waren sie an exponierter Stelle eingebunden und übernahmen Perkussion und Sologesang. Sie verliehen dieser außergewöhnlichen Aufführung dadurch das nötige südamerikanische Temperament. Bei der „Misa Criolla“ handelt es sich um die offizielle spanische Version der Heiligen Katholischen Messe. Die für europäische Ohren ungewöhnliche Besonderheit liegt in der rhythmischen Gestaltung der fünf Teile Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei. Sie spiegeln typische Rhythmen verschiedener argentinischer Regionen wieder: von Tucumán über die Anden, Santiago del Estero und Cochabamba bis in die Weiten der Pampa. Sowohl Zuschauer als auch die Musiker selbst waren gleichermaßen hin- und mitgerissen von der eingängigen Musik mit sakralem Inhalt, bei der Lebensfreude und Melancholie sich abwechselten und ergänzten.

Jan Hofmann dirigierte das Philharmonische Orchester, den Chor des Stadttheaters, den Gießener Konzertverein und die Wetzlarer Singakademie engagiert und mit sichtbarer Freude an der schönen, sonst selten gehörten Musik. Ein bewegtes und entspanntes Publikum dankte den Mitwirkenden mit begeistertem Applaus.